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Barmherziger Samariter 2.0

Christian Gfeller

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Zu den bekanntesten Gleichnissen Jesu gehört die Erzählung des Barmherzigen Samariters (Lukas 10, 25ff) : Ein Mann wird überfallen und liegt im Strassengraben. Eigene Landsleute, ein Gesetzeslehrer und Priester laufen untätig an ihm vorbei. Schliesslich ist es ein Samariter, ein Fremder, der sich ihm erbarmt und sich um ihn kümmert.

Der Theologe und Historiker Ivan Illich zeigt in seinem Buch “In den Flüssen nördlich der Zukunft” (München 2006) eindrucksvoll wie herausfordernd diese Geschichte noch heute für uns ist. Für Illich verdeckt die Bekanntheit der Geschichte, die anstössige Eigenart dieser Erzählung Jesus. Die vielleicht einzige Art, wie wir sie uns heute ins Gedächtnis zurückrufen können, ist, uns den Samariter als einen Palästinenser vorzustellen, der einem verwundeten Juden beisteht. Denn der Samariter ist jemand, der sich entschliesst jemandem zu helfen, dem sein eigenes Volk eigentlich nicht hilft. Er setzt sich nicht nur über gängige Bräuche hinweg, sondern begeht letztlich Verrat. Er unterstützt ein Feind seines Volkes. Indem er das tut, übt er eine Wahlfreiheit aus, deren radikale Neuartigkeit zumeist übersehen wurde. Jesus zeigt durch das Gleichnis, dass die Beziehung, derentwillen er gekommen war, keine Beziehung ist, die erwartet verlang oder geschuldet wird. Sie kann nur zwischen zwei Menschen frei geschaffen werden. Diese Beziehung existiert nicht weil wir Teil derselben Familie sind und uns deshalb einander verpflichtet fühlen können, sondern weil wir so entschieden haben. Es ist eine unerwartete, überraschende Beziehung.

Diese neue Beziehung ist seit Anbeginn der Institutionalisierung ausgesetzt, so Illich weiter. In den frühen Jahren des Christentums war es in einem christlichen Haushalt üblich, eine zusätzlich Matratze, einen Kerzenstummel und etwas trockenes Brot bereitzuhalten für den Fall, dass Jesus, der Herr — in Gestalt eines Fremden ohne Dach über dem Kopf an die Tür klopfen sollte; Dieser Brauch war im römischen Reich allen anderen höchst fremd. Als Kaiser Konstantin die Kirche anerkannt erhielten die Bischöfe in der Reichs Verwaltung den gleichen Status wie Reichsbeamte. Dabei erhielten sie auch die Macht, soziale Körperschaften zu gründen. Und die ersten Körperschaften, die sie gründeten, waren Samariter Vereinigungen, die bestimmte Kategorien von Leuten zu bevorzugten Nächsten auserwählten. Diese Fürsorge war nicht länger die freie Entscheidung des Hausherrn sondern Aufgabe einer Institution . Auf diese Weise mündet der Versuch, offen zu sein für alle, die in Not sind, in einer Schwächung der Gastfreundschaft und deren Ersetzung durch Fürsorgeinstitutionen. Diese Entwicklung zeigt eine allgemeine Neigung der Kirche: wir sind versucht, diese neue freiwillige Liebe zu der uns Jesus auffordert zu verwalten und ihr schliesslich Gesetze zu geben. Institution stehen in der Gefahr Nächstenliebe durch die Kriminalisierung ihres Gegenteils ein zu fordern, abzusichern und sie so ihrer Freiwilligkeit zu berauben.

Jesus fordert uns auf Liebe über gewohnte und zu erwartende Beziehung hinaus zu verschenken. Diese Liebe wollen und können wir einander nicht aufzwingen und wir müssen auch immer wieder neu aufpassen, dass wir sie nicht institutionalisieren. Wir leben in der jahrhundertalten Tendenz, dass wir uns wünschen diese Nähe und Offenheit für den unerwarteten Gast an die Institution ab zu delegieren. Schnell denkt man — «die» kümmern sich dann schon. Doch «die» sind wir. Du und ich die jeden Tag neu sich wünsche offen zu sein für Gottes Wirken durch uns in dieser Welt. So lädt die Geschichte des Barmherzigen Samariters uns auch heute ein selber wieder offen zu werden für die Überraschung Gottes — er will uns im Nächsten begegnen.

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