Diese Ikone ist von David Jäggi gemahlen. Er selbst hat einen sehr lesenswerten Blog, welchen du unter www.sola-gratia.ch findest.

Wie Ikonen helfen können die Realität zu sehen

Christian Gfeller
6 min readDec 11, 2020

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Eine kurze Auseinandersetzung mit Ikonen und der Schrift von Pavel Florenskij: Die umgekehrte Perspektive, Texte zur Kunst.

Ein besonderer Charakterzug der orthodoxen Frömmigkeit sind Ikonen. Ikonen sind durch ein besonders Stilelement charakterisiert: durch den Verzicht oder die gar vermeintlich falsche Darstellung von Perspektivität. Die Perspektivität bezeichnet in der Malerei die Technik, welche es erlaubt, Gegenstände auf einer zweidimensionalen Fläche so darzustellen, wie sie im dreidimensionalen Raum erscheinen. Dies wird durch die sogenannte Zentralperspektive erreicht, welche später noch weiter erläutert werden soll. In der Ikonenmalerei wird diese Technik nicht oder zumindest nicht vorrangig angewandt. Dies führt dazu, dass die Relation der dargestellten Personen und Gegenständen in Ikonen an Kinderzeichnungen erinnern können. Pavel Florenskij (1882–1937) beschäftigt sich in seiner Schrift «Die umgekehrte Perspektive Texte zur Kunst» mit dieser Eigenart der Ikonenmalerei. Für ihn ist auf Grund der fehlenden Perspektive «das Urteil von der Naivität der Ikone — selbst naiv» (Florenskij 1989: 9). Vielmehr vertritt er die These, dass in der Ikonenmalerei, wie auch in jeglicher anderen Epoche, in welcher ohne die Technik der Perspektivität gemalt wurde, auf diese bewusst und nicht aus Unwissenheit oder fehlendem Können, verzichtet wurde. Ikonenmaler zeichnen bewusst nach anderen Prinzipien der Darstellung (vgl. S. 30). Doch was für Gründe gibt es, um auf die Technik der Perspektive zu verzichten? Lässt sich doch gerade dank dieser Technik die dreidimensionale Realität täuschend echt auf einer zweidimensionalen Fläche abbilden.

Um diesen Gründen einsichtig werden zu lassen, gilt es zunächst die Ursprünge der perspektivischen Malerei näher zu betrachten. Nach Florenskij entstand diese Technik im Bühnenbau des antiken, griechischen Theaters (vgl. Florenskij 1989: 17ff). Hier wurde mit Hilfe der Perspektivität eine Dekoration des Bühnenbildes erzeugt, welche die Illusion vermitteln sollte, dass die Bühne ein realer Schauplatz des gespielten Geschehens sei. Das Ziel der Malerei lag hier in einer möglichst realitätsgetreuen Kopie. Diese Illusion kann jedoch nur aufrecht erhalten werden, solange der Betrachter den Blickwinkel auf das Bild nicht ändert. Dies ist ein prägnantes Merkmal der bereits erwähnten Zentralperspektive. Sie ordnet alles im Bild auf einen Zentralpunkt, welcher auf der Horizontlinie liegt, hin. Damit übernimmt sie die Führung des Blickes des Betrachters und legt zugleich fest, von welchem Standpunkt das Bild zu betrachten ist. Die Perspektivität entfaltet ihre Wirkung nur, indem das Bild aus einem streng festgelegten Platz im Raum angeschaut wird (vgl. Florenskij 1989: 21). Durch die Perspektivität wird also eine Illusion der Wirklichkeit erzeugt, indem die Darstellung auf einen einzigen Blickwinkel hin reduziert wird. Das Ziel dieser Art der Malerei ist «nicht die Wahrheit der Wirklichkeit, sondern die Glaubwürdigkeit des Anscheins» (Florenskij 1989: 16). Dadurch gibt die Perspektivität vor, etwas zu leisten, wozu ein Bild (auch eine Fotografie) letztlich nie im Stande ist: wahrhaft eine Kopie der Realität zu sein. Ein Bild ist immer nur ein Abbild der Realität und kein Replikat von ihr. Am prägnantesten verdeutlicht dies wohl das Bild von René Magritte «ca c’est n’est pas une pipe». Durch die Perspektivität wird die Tatsache, dass ein Bild immer nur ein Abbild und keine vollständige Kopie der Realität ist, unterschlagen. Dies ist für Florenskij eine äusserst problematische Art der bildlichen Darstellung. Denn für ihn hat die Malerei nicht die Aufgabe, «die Wirklichkeit zu kopieren, sondern viel eher ein tieferes Verständnis ihrer Architektur und Materials sowie ihrer Bedeutung zu gewähren» (Florenskij 1989: 17).

Genau dies geschieht nun bei Ikonen dadurch, dass sie bewusst auf die Verwendung der Perspektivität verzichten. Durch diesen Verzicht ist eine Ikone klar von der Realität zu unterscheiden. Sie steht nicht in der Gefahr, als Illusion an die Stelle der Realität zu treten. Vielmehr verweist sie auf diese. Der Zeichnungsstil der Ikone verdeutlicht, dass sie als Bild mit dem in Verbindung steht, was sie abbildet. Die Ikone ist keine Kopie, sondern ein Zeichen der Realität. Dadurch wird der Betrachter nicht in eine bevormundende, passive Position gezwängt. Im Gegenteil, der Betrachter ist im Erschliessen der Ikone zum Mitdenken, Auslegen und schöpferischem Aneignen aufgefordert. Denn der Standpunkt, von welchem aus die Ikone zu betrachten ist, wird nicht vorgegeben. Vielmehr stellt die Ikone die Realität so dar, wie sie nur aus verschiedensten Standpunkten gesehen werden kann. Die Ikone ist Einladung und Hilfestellung zur Betrachtung der Realität.

Aufgrund dieser Überlegungen von Florenskij treten Ikonen in ein ganz anders Verhältnis zum Bildnisverbot aus Exodus 20, 1–5: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!“. In paradoxer Weise verstossen die Ikonen in dieser Sichtweise nicht (wie dies im Ikonoklasmus immer wieder reklamiert wurde) gegen das Bildnisverbot. Vielmehr können sie als konkrete Lehrerinnen und Hilfesteller zur Umsetzung des Gebotes gesehen werden. Durch die fehlende Perspektivität verzichtet die Ikone ganz bewusst darauf, an die Stelle der Realität zu treten. Mit ihrem Verzicht auf die Perspektivität und dem damit verbundenen Verweise auf die Realität, begibt sich die Ikone in eine bewusste Abhängigkeit zu dem, was sie darstellt. Dagegen versucht die perspektivische Malerei den Anspruch zu erheben die Realität wahrhaft wiedergeben zu können. Dadurch steht sie in der Gefahr, sich an die Stelle der Realität zu drängen. Die Perspektivität vermittelt die Illusion, das Bild hätte unabhängig, ohne eine Abhängigkeit von dem, was es darstellt, seinen Stand in sich selbst. Solch ein Bild erhebt den Anspruch auf eine sich selbst genügende Bedeutung (vgl. Florenskij 1989: 64). Ist dieser Versuch, an Stelle der Schöpfung selbständig als Schöpfer dazustehen, nicht der eigentliche Ursprung von Götzendienst, der gerade durch das Bildnisverbot unterbunden werden soll? Genau dies kritisiert Florenskij an der Technik der Perspektivität. Hier kommt eine Weltanschauung zum Ausdruck, die die eigene Subjektivität als die einzig wahre Sicht der Realität propagiert und dabei gerade den Bezug zur Realität verliert (vgl. Florenskij 1989: 70). Die Vielperspektivität der Ikone erkennt dagegen jeden Standpunkt an und kann ihn würdigen. Jede Sicht zeigt einen besonderen Aspekt der Welt: «Einige Standpunkte sind inhaltsvoller und charakteristischer als andere, jeder hinsichtlich seiner Verhältnisse, jedoch existiert keiner von ihnen als absolut» (Florenskij 1989: 73). Doch wird hier nun nicht ein Relativismus vertreten in dem es gar keine Realität und absolute Wahrheit mehr gibt? Verkommt hier alles zur individuellen Ansichtssache? Im Gegenteil. Florenskij ist es gerade besonders an der Bewahrung des Wahrhaften gelegen. Wahrheit existiert. Aber sie kann nicht abschliessend erfasst und dargestellt werden. Fassbar sind immer nur unterschiedliche Perspektiven auf die Realität. Diese Argumentation findet ihre Kraft gerade in ihrem Bezug zum Wahren. Jede Sicht ist Symbol, Zeichen des Wahren. In dem Moment, in dem sich die eigene subjektive Sicht jedoch zur einzig wahren erhebt, schiebt sich das Bild an die Stelle des Urbildes. Die Darstellung der Wahrheit wird selbst zur Wahrheit erhoben und will nicht mehr länger blosse Darstellung sein. Das Bild wird zum Götzen.

Abschliessend soll mit einer Übertragung auf drei aktuelle Problemstellungen kurz auf den immensen praktischen Nutzen dieser theoretischen Überlegungen von Florenskij hingewiesen werden. Im Bereich der globalen Berichterstattung hat der von Donald Trump geprägte Begriff der «Fake News» unglaubliche Prominenz erlangt. Wie bei der perspektivischen Malerei, wird auch hier der Anspruch erhoben, die Realität in wahrhafter Weise darzustellen. Wer weiss, was «Fake News» sind, beansprucht die Hoheit auf «True News». Doch News sind, wie Bilder, immer eine Darstellung. Auch sie sind letztlich ein Zeichen und damit Verweis auf die Realität. Darum bedingen gerade auch Nachrichten die Auslegung und das Mitdenken des Empfängers. Doch genau dies will eine Rhetorik, die mit Begriffen wie «Fake News» arbeitet, verhindern. Hier sollen Hörer nicht mitdenken, sondern sich dem Gesagten unterordnen. Ähnlich Anfragen stellen sich an eine wortwörtliche Auslegung von heiligen Schriften, wie sie von konservativen Christen und Muslimen propagiert wird. Entsprechen der Koran und die Bibel perspektivischer oder ikonischer Malerei? Mit Florenskij könnte die spannende These vertreten werden, dass wir hier mit ikonischen Texten zu tun haben. Gerade die Bibel will die Realität nicht ersetzen. Sie will nicht eine Kopie der historischen Ereignisse sein. Vielmehr ist sie Sehhilfe, um zu erfahren, was damals passierte und was dies auch heute bedeutet. Abschliessend kann auch die Frage gestellt werden, was diese Überlegungen für den Umgang mit Smartphones und sozialen Medien bedeutet. Gerade für eine junge Generation ist die digitale Welt die eigentliche Realität. Hat hier die Problematik der perspektivischen Malerei einen vermeintlichen Höhepunkt gefunden? Hier nehmen nicht mehr nur Bilder in Anspruch die Realität zu kopieren. Vielmehr ersetzen hier vermeintliche digitale Freundschaften reale Beziehung.

Diese drei abschliessenden Punkte sind weder detailliert ausgeführt noch durch andere Quellen belegt. Ihre skizzenhafte Darstellung verdeutlichen jedoch, wie relevant eine Auseinandersetzung mit Ikonen und den Gedanken von Florenskij für aktuelle Fragestellungen ist. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Florenskij, Ikonen und diesen Themenfeldern könnte einen spannenden Ansatz für den Wunsch nach einer anschlussfähigen und sprachfähigen Theologie eröffnen.

Literaturangabe:
FLORENSKIJ, Pavel : Die umgekehrte Perspektive, Texte zur Kunst. Übers. aus dem Russischen von SIKOJEV André. München 1989.

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